Sie sind wieder da! Entfesselt. Gnadenlos.
Sie lauern in nebelverhangenen Steinhäfen, verbergen sich in verlassenen Häusern und manifestieren sich in überlegenen Computerintelligenzen. Streuen ihre böse Saat in den Seelen unschuldiger Kinder.
Sie verkörpern das Unheimliche in sechs mitreißenden Spuk- und Geistergeschichten von Michael Marrak, Arthur Gordon Wolf, Harald Weissen, Carlo Reißmann, Torsten Scheib und Constantin Dupien.
Mit Illustrationen von Julia Takagi und einem spannenden Artikel von Eric Hantsch, der den Spuren der Spukerzählung folgt.
Mängelexemplare: Heimgesucht ist die vierte Anthologie aus der Mängelexemplare-Reihe, herausgegeben von Constantin Dupien. Wie der Name „Heimgesucht“ bereits vermuten lässt, dreht sich hier alles um Geister und Spuk. Constantin Dupien konnte hierfür wieder einige Mitstreiter gewinnen:
• Michael Marrak (oder auf Facebook);
• Carlo Reißmann;
• Harald Weissen;
• Arthur Gordon Wolf;
• Torsten Scheib;
und
• Eric Hantsch.
Michael Marrak – Ein Schattenmärchen (7 Seiten)
Eine Einleitung am Lagerfeuer, eine Geschichte auf der Flucht, eine Warnung vor dem Bevorstehenden.
Ein rhetorikgeschwängerter Prolog, der es versteht sein Ende, als Beginn darzustellen…
Carlo Reißmann – Das Prälat des eisernen Lichts (8 Seiten)
Eine Liebesgeschichte, ein Bekenntnis der Hingabe, eine Wahl der Ewigkeit.
Laura folgt ihrem Herzen, folgt der Liebe bis zu der letzten Frage… und ihrer "Antwort".
Harald Weissen – Farbenschwund (38 Seiten)
John Babaluuga vegetiert sein deprimierendes Dasein in einem unbestimmten Schauspiel, welches sich bisweilen "Leben" schimpft.
So wird er von Kindesbeinen an vom Verlust nicht einfach verfolgt, sondern heißt ihn, dem alles fressenden Sog der Gewohnheit geschuldet, unfreiwillig willkommen.
Eines Tages schenkt ihm nun der Opportunismus die Striktheit einer Lösungsdystopie…
Die Novelle selbst ist nun wirklich nicht schlecht, die Grundidee eigentlich richtig gut… nur gerade bei einer solchen Novelle, einem solchen Titel, wünsche ich mir Farben, Düfte, lechze schon beinahe nach malerischen Wortlandschaften, bei denen sich die Abendsonne im sanften Tau der Sprache bricht.
Hier sehe ich mich nun aber einer merkwürdigen, mir persönlich unangenehmen, Distanz, förmlich ausgeliefert. Ich fühle mich ein wenig deplatziert, unerwünscht – eine Distanz, welche nicht von mir bewusst gewählt, sondern von der Geschichte fremd bestimmt gehalten wird. Partout will sich mir keine Beziehung zu dem Schreibstil darbieten – so leid es mir inhaltlich auch tut.
Vielleicht bin ich hier auch einfach von den beiden ersten Novellen zu verwöhnt…
Constantin Dupien – Das Haus (2 Seiten)
Ein Gedicht über den Trieb der Neugierde und ihre herzlose Schwester: die Konsequenz.
Es ist die Einfachheit, die Unbeflecktheit, mit welcher Dupien die Worte blutbesudelt hinterlässt…
Michael Marrak – Der Steinhafen (67 Seiten)
Jakob weiß um das Geheimnis, welches der Steinhafen birgt. Weiß um dessen allseherische Macht und die Warnungen, die sie preisgibt.
So spricht dieses Orakel von Dreien. Drei, die gehen werden, gehen müssen. Drei, die Jakob verlassen.
Als er nun eines Tages seine geistig verwirrte Tante im Garten beobachtet, scheint es aber eher, als müsse er jemanden – etwas – willkommen heißen…
Marrak schafft hier einen Himmel, dessen Grau zäh im Äther der Geschehnisse seine Spur hinterlässt, doch kaum will man diese Masse als solche wahrnehmen, verfliegt sie, tanzt in grotesken Schemen über die Seiten und legt sich wie ein feiner Dunst um die Worte.
Er gewährt dem Leser von der ersten Seite an die Anteilnahme an den Ereignissen , selbst an jenen, welche der Grundsätzlichkeit der Banalität zum Opfer fallen würden – so blicke nicht ich auf das Buch, das Buch blickt auf mich, lässt mich den Kreis der Darbietung schließen – und reiße ich mich von den Seiten, wird mir gewahr, dass etwas mit mir kam…
Marrak weiß der Groteske ein Gesicht zu schenken, weiß um die Vergänglichkeit ihrer Maskerade – lässt sie tanzen, lachen, reißen… und in den lautesten Tönen verstummen.
Michael Marrak: was ein begnadeter Künstler!
Arthur Gordon Wolf – Flashback (49 Seiten)
Drei Männer, Toother, Wayne und Sid, sind nach einem Raub auf der Flucht durch eine Einöde. Zu ihrem vermeintlichen Glück stoßen sie auf ein verlassenes Haus, welches nur von dem Hauscomputer (George) "bewohnt" zu sein scheint.
Alsbald wird Toother, seinem ehemaligen Carfentanyl-Konsum geschuldet, von Flashbacks heimgesucht – zumindest ist das die logischste Erklärung.
Ruhe, Entspannung und ein wenig Luxus ist doch letztlich, was jeder einmal braucht – …selbst Untertanen.
Und es begann so harmlos.
Drei Männer, Raub, Flucht, ein Haus…
…und plötzlich ist es da. Noch kann ich es nicht benennen, noch will es sich mir nicht wirklich zeigen, doch es ist da! Ich lese.
Mit jedem Wort, jedem Satz, jeder Seite begebe ich mich tiefer in die Geschichte – wohl möglich zieht es mich auch… lockt mich. Ich lese.
Was noch vor wenigen Seiten so harmlos begann, verschlingt mich – ich lasse mich verschlingen. Ich lese.
Arthur Gordon Wolf vermählt Kubricks utopische Bizarrheit mit Lovecrafts dystopischer Morbidität: Cthulhu verschlingt "2001 – Odyssee im Weltraum" beherbergt Cthulhu verschlingt…
…ich lese es nicht mehr – ich höre das Kichern.
Torsten Scheib – The lost Place (58 Seiten)
Eine Gruppe von Studenten erkundet mit ihrem Professor ein verschollen geglaubtes Haus – und merken alsbald, dass dieses Haus tatsächlich verschollen ist!
Ich. Hasse. Kurze. Sätze. Und genau hiermit arbeitet Torsten Scheib recht großzügig.
Ja, ich bekenne mich schuldig: es ist weniger der inhaltliche Aspekt, als die Syntax, welche mich an Kant so fesselt. Nun ist Torsten Scheib aber nicht nur nicht Kant, sondern frönt zudem einer postmodernen Sprachdivergenz, welcher ich mich nun eher ausgesetzt, als willkommen sehe.
Zudem zelebriert er eine nahezu devote Hingebung eines Vokabularzwangs, welcher im Bezug auf den grundsätzlichen Kontext bisweilen recht deplatziert scheint – Geschmäcker sind nun eben verschieden und meiner ist anders…
Eine entsprechend beschwerliche Reise war es nun also, mich durch diese Novelle zu (man entschuldige mir den Sardonismus) stottern – diese Stakkato-Satzende-Manie stellt für mich einfach eine logopädische Liquidation dar!
Zwar lässt diese linguistische Kastration nach einiger Zeit nach, doch bleibt die inhaltliche Konfrontation mit einer pathologischen Zwanghaftigkeit, denn einer unbefangenen Bizarrheit. Es fehlt an Selbstverständlichkeit, Entfaltung, Natürlichkeit und Bewusstsein.
Mängelexemplare: Heimgesucht ist das erste Buch aus der Mängelexemplare-Reihe, welches ich lese – und es wird mit Sicherheit nicht das letzte sein! Diese Anthologie ist derart fesselnd, dass sie mich fürwahr "heimgesucht" hat. Die Autoren, welche Constantin Dupien hier versammelt hat, sind dem Thema mehr als gerecht geworden! Stilistisch wird immer wieder dieses, dem Anderen mehr munden, als jenes dem Einen – doch gleicht das letztlich der "Bordeaux-oder-Burgunder-Frage": Geschmack hat die Pflicht verschieden zu sein!
Der nicht zu unterschätzenden Komplexität, welche Spuk- und Geistergeschichten mit sich bringen, haben sich alle Autoren mit Bravour gestellt! Auch die beiden Novellen, welche schlichtweg nicht meinen Geschmack trafen, treffen inhaltlich mitten in das Thema – lediglich stilistisch wussten sie mich nicht zu fesseln.
Neben den Illustrationen von Julia Takagi leitet ein kurzer Brief, eine Meinung oder Essay des jeweiligen Autors seine Erzählung ein – eine schöne Idee wie ich finde.
Zum Ende des Buchs findet sich noch ein Fachbeitrag von Eric Hantsch: "Was tot ist, kann nicht sterben".
Herr Hantsch geht hierbei weniger auf die Entstehung und Entwicklung der Spuk- und Geistergeschichten ein, als auf deren literarische Vielfalt. Ein netter Abschluss, welcher auf das ein oder andere Werk neugierig gemacht hat.
Amrûn hat mir dieses Buch als Rezensionsexemplar unentgeltlich mit einer regulären Bestellung zukommen lassen.
Ich sehe das, als eine unglaublich schöne Geste (das schönste Geschenk ist ein Buch) und einen wahnsinnigen Service (trotz der Größe – eher Kleinheit – unseres Blogs, ein Rezensionsexemplar mitzuschicken)! Zudem darf ich erwähnen, dass ich nie direkt ein Rezensionsexemplar angefragt habe!
Nun also auch auf diesem Wege ein Dank – ein doppelter Dank:
zum einen für das Rezensionsexemplar;
zum anderen für eine wirklich hochinteressante Anthologie!
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