Die USA in den 50er-Jahren. Nach außen hin eine heile Welt, doch inmitten der amerikanischen Vorstadtidylle wird ein Junge mit unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert. Jack Ketchum zeigt in seinem beunruhigenden, grenzüberschreitenden Horrorthriller die Abgründe der menschlichen Seele auf.
Nichts ist schlimmer, als die Realität. Nichts widerwärtiger oder unglaublicher – und Ketchum wusste um diesen Fakt.
Umso komplexer ist es, sich dieser anzunehmen und darüber zu schreiben; davon zu berichten – zu interpretieren, ohne zu dramatisieren.
1965.
Am 26. Oktober 1965 erlag Sylvia Likens ihren Verletzungen. Das Mädchen wurde drei Monate auf widerwärtigste Art und Weise gedemütigt, gequält, gefoltert und misshandelt.
Sylvia Likens wurde 16 Jahre alt.
1989.
24 Jahre später, erinnert Dallas Mayr, bekannter als "Jack Ketchum", dieser kranken Tragödie. Er taufte diese Erinnerung "The Girl next Door" (so der Originaltitel des Buchs).
Ab wann, kann man das Geschehene nicht wieder gut machen? Ab wann, kann man eine Tat nicht verzeihen? Ab wann, kann man sich selbst nicht mehr verzeihen.
Letztlich handelt es sich hier um Fragen, die man nicht beantworten kann und doch wagt sich Ketchum an eine Möglichkeit, die in ihrer Wahrheit, ihrer unausweichlichen Realität, eben genau dieses nicht sein darf: wahr; real; möglich.
Kinder, Pubertät, Gruppendynamik, Macht, Konsequenz – Normalität.
Ketchum kreiert, entwickelt, stellt Normalität dar und lässt sie geschehen – lässt sie ungehindert, lässt sie ungefiltert auf den Leser regnen… wie ein Napalmschauer.
Er nutzt die Unschuld nicht als Werkzeug, sondern das Geschehene als Zeuge seiner selbst.
Zwei Mädchen. Kinder. 14 und 12. Megan und Susan Loughlin…
Zwei Mädchen, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern, zu ihrer Tante, Ruth, ziehen und um deren psychischen Verfall (wortwörtlich) erleben müssen.
Evil erzählt von Ruth, die ihre Nichten, Meg und Susan, in ihre Obhut nimmt – aus der die Hölle wächst.
Evil beschreibt die Entwicklung zwischen Jungen und Mädchen – aus der Richter und Gerichteter werden.
Evil schildert die unbedingte Liebe zweier Schwestern – und den Schmerz, den das Fleisch zu büßen hat.
Evil offenbart die Widerwärtigkeit des Humanismus – und die Reue der Misanthropie.
Drama.
Die eigentliche Kunst dieses Genre ist es, um die Grenze zwischen dem "Sein" und dem "Tun" zu wissen. Es soll dramatisch sein, doch eben nicht dramatisieren; es soll darstellen, doch eben nicht überzeichnen!
Letztlich hat Ketchum somit mit Evil etwas "genreloses" geschaffen – es ist nicht dramatisch, es stellt nicht dar, es ist einfach.
Gleichwohl in der Ich-Perspektive geschrieben, erlebt man die Geschehnisse, die Geschichte, nicht aus den Augen von David Moran – man darf sich nicht als Gast einer Gnade wissen, die nur ein einziges Schicksal (er)leben lässt… nein, man erlebt noch nicht einmal – es ist nicht so, als "dürfe" man die Geschichte durchleben – man wandelt, transformiert, verkommt, entartet zu dem Schicksal, zu den Schicksalen, einer, dieser, aller Erinnerungen; man selbst wird zu der Erinnerung.
Gnadenlosigkeit setzt Gnade voraus. Diese unausweichliche Bedingung der Existenz – der Antagonist: um nicht zu herrschen, braucht es die (logische) Möglichkeit des Bestehens.
Die Möglichkeit wird hier zum endgültigen Fakt: der erbarmungslose Bestand der Gnadenlosigkeit, als Akt einer vulgären Gnade.
Und nicht nur die Geschichte, nicht nur dieses Losgelöste, diese "gewordene" Autarkie, auch Ketchum, hier als Ursprung dieser Independenz, schenkt dem Leser Gnade, sowie deren Opponent.
Gnade: das Buch irgendwann beendet zu haben.
Gnadenlosigkeit: das Buch irgendwann beendet zu wissen.
Es sei noch einmal betont: The Girl next Door (Originaltitel) erschien 1989(!) – was bis zum heutigen Tage schmerzt, was bis zum heutigen Tage lieber unausgesprochen, ja, gar lieber ungedacht, als fahler Schemen im Bewusstsein fristet, war zu dieser Zeit schlicht unmöglich! Ketchum überschritt nicht einfach eine Grenze – er definierte sie neu, einzig, um sie unlängst hinter sich zu lassen.
Die von ihm gewählte Ich-Perspektive lässt den Moment nie vergehen – nein, macht ihn noch persönlicher, noch intimer… noch unbarmherziger.
Evil ist ein Buch, das man vergessen will, einfach nur, um sich ewig daran zu erinnern; ein Buch, das man verschlingen will, weil es genau das mit einem selbst getan hat; ein Buch, das man hassen will, weil man um die Liebe zu ihm weiß – ein Meisterwerk in seiner widerlichsten Gestalt!
Es ist kein Tränenfluss – es ist das unaufhaltsame Nichts, das den Leser mit sich reißt, die ultimative Konsequenz, das Ultimatum selbst, welches Ketchum hier beschworen hat.
Diese Impression bezieht sich auf die englischsprachige Ausgabe des Buchs. Zur besseren Lesbarkeit, habe ich im vorliegenden Text den Buchtitel und Klappentext, sowie das Buchcover der deutschen Übersetzung gewählt.
Da mir die deutsche Übersetzung des Buchs nicht vorliegt, kann ich keine Aussagen zur Übersetzung oder eventuellen Unterschieden zur englischen Ausgabe treffen.
[…] gewagtes Unterfangen betrachtet werden. Automatisch stellt man sich dem Vergleich mit Ketchums Evil (Heyne, 2006; OT: The Girl next door). Ein solches Wagnis nun auch noch auf gerade einmal 141 […]
[…] Spätestens seit Jack Ketchums (†) grandiosem Werk The Girl next Door (Warner Books, 1989; dt.: Evil, Heyne, 2006) hat sich gezeigt, dass eine Grenze nur der Moment des […]
[…] von Ryan Hardings Genital Grinder vereint sich mit der Widerwärtigkeit aus Jack Ketchums The Girl next Door (Warner Books, 1989; dt.: Evil, Heyne, 2006), potenziert sich mit den Gewaltexzessen aus Tim […]
[…] (Jack Ketchum – The Girl next Door) […]