Hashi und Kiku wurden nach ihrer Geburt in Münzschließfächern zurückgelassen. Die beiden Jungs verbringen ihre Jugend zunächst im Waisenhaus und später bei Pflegeeltern auf einer verlassenen Insel, bevor sie schließlich in die Stadt ziehen, um die Frauen, die sie weggegeben hatten, zu finden und zu vernichten. Gemeinsam oder getrennt ist ihre Reise vom Münzschließfach zu einem atemberaubenden, wilden Höhepunkt eine Achterbahnfahrt durch die unheimliche Landschaft eines Japan im späten zwanzigsten Jahrhundert.
Nachdem sie ihre Zieheltern verlassen hatten zieht es beide ins Giftghetto, eine von Freaks und Strichern belebte Gegend. Während sich Hashi zu einem bisexuellen Rocksänger entwickelt, Star in dieser exotischen Halbwelt, sucht Kiku, seine Rache in Gesellschaft seiner Freundin, einem Modell, die ihre Wohnung in einen tropischen Sumpf für ihr Krokodil umgewandelt hat. Doch die Rachepläne die Kiku verfolgt, gehen weiter als bloß seine Mutter zu finden …
»Coin Locker Babys« nennt man in öffentliche Schließfächer abgelegte Neugeborene. Diese Praxis findet man häufig in Japan oder China vor. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein Baby dies überlebt.
Coin Locker Babys ist eine surreale Coming-of-Age Geschichte in einem Japan der nahen Zukunft, die Ryu Murakami als einen der einfallsreichsten Autoren der Welt etablierte.
» Mela, Mela, Mela, Mela, Melancholia
Melancholia, mon cher (…) «
( Einstürzende Neubauten: Silence is sexy – Die Befindlichkeit des Landes )
Es gibt diese "besonderen" Bücher. Diese Bücher auf die man sich freut, auch, wenn der Respekt vor dem Bevorstehenden ungleich der Freude besteht… und wächst.
Coin Locker Babys war, Coin Loker Babys ist und bleibt eines dieser Bücher – eine dieser Erfahrungen, die weniger bleiben, als grundsätzlich sind.
Ein Buch, nein! – ein Werk, ein "Gebilde", wie dieses zu beschreiben; zu umschreiben, was der Autor selbst nicht geschrieben hat, schlicht, um kognitiv zu sein, statt faktisch zu bleiben, ich müsste in die englische Sprache flüchten: "concrete"…
Also Beton – in seiner Beständigkeit, in seinem Bestand und Sein.
Also Konkretisierung – in ihrer Vergegenständlichung, in ihrer Gegenständlichkeit und Präzession.
Also Plastizität – in ihrer Anschaulichkeit, in ihrer Einprägsamkeit und Ausdruckskraft.
Die Reise, der Weg, das stete Sein zweier Fremder, die Brüder sind.
Zwei Schicksale, die sich im Kinderheim treffen, ihrer Vorsehung zu folgen. Als Coin Locker Babies dem Leben trotzen, nicht dem Tod! – denn diesem sind sie willkommen, denn diesem haben sie sich selbst entsagt, als das Leben ihrer überdrüssig schien.
Die Reise, der Weg, das stete Sein zweier Brüder, die Fremde sind.
Murakamis literarische Gestaltung ist faszinierend: dieses Arrangement zwischen Bloßheit und Entblößung. So würde man im klassischen Ansatz von einem Entwicklungsroman sprechen, was hier jedoch nicht treffend wäre, arrangiert Murakami doch statt der "konservativen" Entwicklung (kontinuierliche Ist-Zustände) einen steten Sein-Zustand (fließend) – jedoch in der Intensität eines (Cyberpunk-)Entwicklungsromans; und somit nicht "Coming of Age", doch "Being in Age" (und somit auch dem breiter gefächerten "Time" entkommen).
Fernab des übertünchten Humanismus, zeigt Murakami hier weniger die ungeschminkte Natur der Zivilisation, als das, was vom Tage übrig blieb – diesen Succubus des Vorabends, der sich nun unverhohlen aus einer Illusion schält; diese beißende Erinnerung an den letzte Schluck, der sich aus dem Grinsen dieser Make-Up-verschmierten Bedeutungslosigkeit erbricht, nun in die Nasenhöhle frisst und als vulgäre Scheinexistenz das Laken verschwitzt.
Was hier wartet, ist Roman, ist Zeitreise, ist (Auto-)Biografie und Satire; was hier wartet ist die Ungeduld des Lebens, die animalisch an den morschen Holzgittern der Beständigkeit rüttelt; was hier wartet, ist die Fliege, die sich herrenlos als Mensch offenbart.
Manchmal fühlte ich mich an die Erinnerung gefesselt, suchte, und sei es nur dem greifbaren Vergleich geschuldet, Parallelen – und fand mich zuweilen in Gotland (Michael Stavarič, Luchterhand Literaturverlag, 2017) wieder.
Nicht als Analogie, doch als Reminiszenz: wo Stavarič den Wahn die Realität beäugen lässt, lässt Murakami die Realität den Wahn erfahren.
Als Leser findet man sich weniger auf einer Meta-, denn in einer Mesa-Ebene; in diesem trächtigen Mutterleib, diesem befleckten Kadaver, der inmitten seiner eigenen Exkremente nicht tot, sondern Heimat ist, bis sich aus der Transformation die Fliege erhebt.
Es ist schwer, womöglich trifft es "komplex" besser, Coin Locker Babys zu greifen, zu begreifen – sei es durch, oder wegen diesem Massiv, als welches es sich mir gegenüberstellt – zuweilen brüstet.
Ist es nun also an mir zu schreiben, zu beschreiben – sezieren?
Vor mir baut sich das groteske Konstrukt der Befindlichkeit des Landes auf, zu dessen Boden und gleichsam Firmament, ich in der wunderbaren und bizarren Melancholie von "Hope there’s someone" schwimme – gleite – bin, bis mich der Wahn von "Hitler in my heart" verschlingen will, ich den Kopf nach oben – unten reiße, Luft schnappe – suche, den Blick richtungslos auf die Silhouette fixiere, die sich schemenhaft in der scheinbar bekannten Fremdartigkeit abzeichnet und die Worte sehe – höre – lausche: »You met me at a very strange time of my life«…
Und über allem, doch ein Buch. Nicht "nur"; "doch".
Von Seite zu Seite werden es mehr Worte, mehr Buchstaben, mehr dieses sich selbst verschlingende Schwarz, das sich wie ein öliger Schimmer auf meine schweißbenetzte Haut legt – angestrahlt von den Neonfluten Japans.
Murakami verfolgt zu keiner Sekunde die Absicht zu konfrontieren – vielmehr ist ein allsagendes Schweigen; ein Blick, der keiner Worte bedarf, welchem er eine Stimme, einen Ton zu schenken scheint.
Weder Polycarbonat noch Vinyl; hier tönt "A walk to the peak" ( Gaspare Di Lieto Quintet – Dance of the whales ) von einer alten Kassette.
Das Ende?
Man hält das Magnetband als groteske Parabel der Welt in seinen Händen, schmeckt das Nikotin, dass sich als letzte Erinnerung der Sozialität wie ein schwerer Ledermantel um diese Schöpfung schmiegt und spürt das schwüle Nass – hier, im Reich der Krokodile.
» …Mela, Mela, Mela, Mela, Mela. «
Selbstverständlich darf der Dank an den Verlag nicht fehlen.
Hier eben nicht nur für die (gewohnte) herausragende Qualität des Buchs, sondern auch, oder gerade, die Übersetzung!
Wo es sich viele Verlage einfach machen, den zuvor ins englische übersetzte Text als Quelle zu nehmen, geht Septime den direkten Weg und schenkt seinen Lesern durch Ursula Gräfe eine Übersetzung aus dem Japanischen.
Es ist immer wieder eine Freude, ein Buch des Septime-Verlags in den Händen halten zu dürfen – literarisch, wie haptisch.
Ich möchte hier nun also auch die Gelegenheit nutzen und Jürgen Schütz für seine Arbeit, seine Leidenschaft und seinen Verlag danken!
Wer einmal die Leidenschaft dieses Verlegers erleben durfte, wird wissen, von was ich spreche – wem dieses wunderbare Erlebnis noch nicht zu Teil wurde, sei geraten, es alsbald nachzuholen.
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